Freitag, 27. Mai 2016

Timor Leste 1: Zu Besuch in Revoluzzer-Land

Die Busfahrt von Kupang nach Dili beginnt mal wieder damit, dass wir um präzise 4:55 Uhr vorm Hotel auf den Bus warten, der (wie sollte es anders sein) 20 Minuten zu spät ist und uns auch erstmal nur zum Busunternehmen bringt, wo wir eine Stunde auf die Abfahrt warten. Drei Stunden später sitzen wir im Bus und die ersten Timoresen steigen zu: Ein irre lachender Opa setzt sich neben mich und unterhält, pardon "unterschreit" sich permanent mit der ebenfalls irre lachenden Oma hinter Timo. Beide reden in einer Mischung aus Bahasia und Portugiesisch (genannt Tetum) auch auf uns ein. Ich verstehe nichts. Einer unsere Sitze ist kaputt und wir rempeln die Frau hinter uns damit immer an. Die sieht das anfangs locker, aber mit den Stunden verstreicht auch ihre Geduld immer mehr. Und wir haben noch nichtmal die Hälfte der Busfahrt hinter uns...

Immerhin schlängelt sich der Bus fortwährend kurvige Bergstraßen hoch und runter. An einem steilen Berg bleibt der Bus plötzlich stehen. Der Motor quietscht und ächzt und ich fürchte schon, des Busses letztes Stündchen hat geschlagen. Aber er fährt. Langsam, aber er fährt. Insgesamt unendlich lange 12 Stunden dauert die Klapperfahrt von Kupang nach Dili, inklusive passieren des Grenzüberganges.

Gegen halb drei sind wir an der Grenze und überzeugen auch hier den diensthabenden Grenzbeamten davon, dass wir seit Ende Mai nicht mehr für ein Visum zahlen müssen und auch keinen "authorization letter" mehr brauchen. Ich glaube es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich sage "we are european citizens" ("wir sind europäische Staatsbürger"). Hinter dem Beamten hängt eine Karte der Europäischen Union und ein Kollege und er scheinen länger darüber zu diskutieren, ob Deutschland nun zur EU gehört oder nicht (wir schmunzeln) - ein Aufdruck auf dem Pass in Englisch wäre wirklich sinnvoll. Schließlich kommen sie zu dem Ergebnis, dass wir die Wahrheit sagen. Ja wir sind europäische Staatsbürger und heute freuen wir uns so richtig darüber. Macht ja alles immer noch ein bisschen mehr Spaß, wenn man dabei auch noch Geld spart. Kurz hinter der Grenze gibt es eine erneute Kontrolle von finster blickenden Militärpolizisten, die sich sehr interessiert unsere vielen Stempel im Pass anschauen. Und wir sind drin. Wir sind in Timor Leste! 

Auf dem Weg nach Dili begegnet uns kaum ein anderes Auto, allein drei LKWs zähle ich. Aus Gras geflochtene Girlanden und Herzen säumen den Straßenrand. Später werde ich erfahren, dass dies eine alte timoresische Tradition ist, um Gäste willkommen zu heißen. Die Straße führt durch viele Dörfer, in den meisten davon sieht man überwiegend einfache Basthütten, mit sehr niedrigen Eingängen und Schweine, Kühe, Ziegen zu hauf. Die Höfe sind sehr ordentlich und oft von vielen bunten Blumenkübeln gesäumt und an den Hütten hängen viele FC Barcelona Fahnen. Barca scheint hier beliebt zu sein. Fußballtechnisch hat das mit der Kolonialisierung wohl nicht so geklappt, Portugal. Timor Leste ist ein sehr junges Land - wir beobachten viele Kinder und Jugendliche, die sich am Straßenrand die Zeit vertreiben. Linker Hand erstreckt sich das glitzernde Meer und wir tuckern vorbei an süßen kleinen Essensständen, vorbei an Mangrovenhainen und vorbei an vielen kleinen Holz Kanus - solche die aussehen wie aus Robinson Crueso oder einem Dokumentarfilm. Die Mehrheit der Menschen scheint hier sehr einfach zu leben. 

Erst kurz vor der Landeshauptstadt Dili, weichen die Bambushütten mehr und mehr kleinen Steinhäuschen und Lädchen und es tümmeln sich deutlich mehr Leute und Fahrzeuge (hauptsächlich Busse und LKWs mit Menschen beladen) auf den Straßen. Am Stadtrand von Dili fällt uns eine Statue auf - ein Soldat mit Maschienengewehr - an der eine Timoresische Flagge hängt. Die Statue spielt wohl auf die 40 Jahre währenden, blutigen Freiheitskämpfe diesen kleinen Landes an. Offensichtlich ist man hier Stolz darauf sich die Unabhängigkeit erkämpft zu haben. Und zu recht. Aber im Stillen frage ich mich, ob das die vielen Menschenleben wert war. Timor Leste war lange portugiesische Kolonie. Im Zuge der Abnabelung von Portugal nach Ende des zweiten Weltkrieges ist Indonesien unter Sukarno in Timor Leste einmarschiert und hat das Land in Besitz genommen. Dies unter den Augen der ganzen Welt und mit Unterstützung aus den USA, Australien und leider auch Deutschlands - es ging darum (typisch für diese Zeit) angebliche Kommunisten in Timor Leste zu besiegen. Sogar der Papst hat Indonesien damals unterstützt! Erst seit 2002 ist die demokratische Republik Timor Leste offiziell unabhängig und erst 2012 sind die UN Truppen abgerückt.
Dili
Die Hauptstadt Dili ist eine schöne Hafenstadt, noch sehr herunter gekommen, aber längst nicht so wie ich mir das vorgestellt habe. Es gibt jede Menge Hotels und auch ATMs und unser Hostel hat sogar Wifi (jedenfalls theoretisch). An der Wasserkante liegt ein Park, der Freiheitspark, der mit jungen Pärchen und Gruppen von unbeschwert aussehenden Teenagern gefüllt ist. Ich sehe Smartphones und Laptops, auch die technische Entwicklung hat es bis hierher geschafft. Gibt es irgendwo auf der Welt noch einen Ort ohne Internet? Junge Männer verkaufen Bananen und Orangen, die an Fäden von einem Stock hängen, den sie sich über die Schulter gelegt haben - ein krasser Kontrast. Manche sprechen mich in der Landessprache Tetum an - die ich natürlich nicht spreche. Mit Portugiesisch und Bahasia soll man ganz gut durchkommen aber von beidem spreche ich leider nur Brocken. Angeblich spricht hier niemand Englisch, na das werden wir ja sehen. Die Auswahl im Supermarkt ist überraschend groß, leider ist alles relativ teuer. Der Supermarkt verkauft sogar Müsli - seit Bali haben wir keines mehr gesehen - und daneben noch einiges anderes was wir hier, am Ende der Welt, nicht erwartet hatten. Ich kaufe ein paar Kartoffeln - wir wollen im Hostel kochen - das erste Mal seit fast drei Monaten! Abends stelle ich dann fest, dass ich Süßkartoffeln gekauft habe (und ich dachte mir noch "die sehen aber komisch aus") - aber die kann man auch braten und am Ende schmecken sie gar nicht so schlecht. Wir nehmen uns einen Tag zum erholen und planen unsere restliche Reise durch um Flüge zu buchen. Will man Indonesien bereisen ohne ständig in den Flieger zu steigen, braucht man sehr viel mehr Zeit als wir haben. In Timor Leste gibt es allerdings keine Inlandsflüge. Ansonste  gibt es hier wirklich alles! Von wegen kein Internet, keine Hotels, keine Geldautomaten. Das war mal. Um die Ecke vom Hostal gibt es sogar einen grandiosen Thailänder, der uns an den Beginn unserer Reise erinnert.

Am nächsten Tag setzen wir dann zum Sightseeing an. Als erstes steht Arte Morris auf unserer Liste, eine kostenlose Kunstschule, in der man die Kunstwerke der Schüler kostenlos besichtigen kann. In einem so jungen Land mit einer so blutigen Vergangenheit finden wir das besonders spannend. Das Gelände gleicht eher einer Müllhalde, erst auf den zweiten Blick sieht man, dass die Schüler hier aus allem was sie finden konnten Kunst gemacht haben - Statuen aus Autoteilen, Figuren aus Autoreifen, aus Flaschen, aus Dosen - aus allem eben. In den Gebäuden, die etwas verlassen aussehen mit ihren eingeschlagenen Fenstern und dem Laub auf dem Fußboden, finden sich erstaunlich gute Gemälde und andere Kunstwerke - alles hervorragende  zeitgenössische Kunst. Die Not ist eben ein Katalysator der Kunst.

Dann widmen wir uns der Geschichte Timor Lestes und besuchen das brandneu aussehende Resistance Museum. Mit vielen Fotos, Berichten von Zeitzeugen und sogar Originalvideos von Massakern ist hier der jahrzehntelange blutige Freiheitskampf Timors dargestellt. Vor allem das Massaker von Santa Cruz aus dem Jahr 1991 schockiert mich.
Als Deutscher tendiert man ja dazu sich eher mit den Schandtaten des eigenen Volkes zu beschäftigen. Aber die Indonesier haben sich unter Sukarno wirklich nicht mit Ruhm bekleckert. 270 Menschen wurden an dem Tag brutal abgeschlachtet, darunter viele Kinder und Jugendliche - auf einem Friedhof während eines Gedenkgottesdienstes für einen Unabhänigkeitskämpfer, der von indonesischen Truppen getötet worden war. Weitere 270 wurden inhaftiert und sind seitdem verschwunden. Da dieses Verbrechen in Anwesenheit von internationalen Journalisten passierte und dabei auch ein junger australischer Student starb wird das Massaker heute als Wendepunkt im timoresischen Unabhängigkeitskampf gesehen. Aber es ist schon traurig, dass erst ein Ausländer sterben musste, bevor die Weltöffentlichkeit endlich mal einschritt. Die treibende Kraft der Unabhängigkeit, die Gruppierung Freitilin, war als kommunistsisch eingestuft worden und so wurde Indonesiesen von den USA und vielen vielen anderen westlichen Ländern lange unterstützt. 1985 hat eine deutsche Delegation die Insel besucht und festgestellt: "Die ganze Insel scheint verhaftet zu sein. Niemand lächelt.". Und trotzdem wurde nichts unternommen....mir läuft es eiskalt den Rücken herrunter.
Auf dem Weg zum nächsten Museum treffen wir dann auf eine Gruppe fröhlicher, neugieriger Bauarbeiter, die alle astreines Englisch sprechen, deutschen Fußball mögen und überhaupt sehr froh sind uns zu treffen. Von wegen die sprechen hier kein Englisch!


Wir besichtigen als nächstes eine Fotoausstellung in einem alten Gefängnis, ich find sowas ja immer super gruselig, wenn man weiß da sind reihenweise Leute umgekommen. An der Wand einer Zelle steht "Live or die with Indonesia". Das fasst die Einstellung Indonesiens wohl ganz gut zusammen. Die Ausstellung heißt "Chega" was soviel bedeutet wie "Genug, Stop". Die Dokumente und Fotos wurden von einer Gruppe zusammen getragen, die so objektiv wie möglich die Folgen der Besetzung untersucht. Sie zählt über 100.000 Tote, 19.000 ermordete und 85.000 verhungerte oder an Krankheiten gestorbene Timoresen. Die Foltermethoden waren extrem, manche wurden fünf Tage lang kopfüber aufgehängt. Brutal.
Nach all diesen Stories wollen wir natürlich auch einen Blick auf den Friedhof Santa Cruz werfen, auf dem das Massaker passiert ist. Der Friedhof ist völlig vollgestopft mit traditionell portugiesischen Kachelgräbern, man kommt kaum durch und zwängt sich an den unzähligen Grabsteinen vorbei. Teilweise sind in den Grabsteinen Löcher zu sehen. Viele Gräber datieren von dem Massaker. Grotesk. "Hier gestorben und begraben", hätte man drauf schreiben können. Wir wollten eigentlich das Grab eines
Unabhängigkeitskämpfers besuchen, mehr um zu sehen, ob sich da heute noch jemand drum kümmert, aber wir finden es nicht.


Christo Rei
Zum Abschluss des Tages lassen wir uns von einem Taxi zur Statue Christo Rei fahren - einer Jesus Statue auf einer Klippe am Meer, so ähnlich wie in Rio. Der Aufstieg besteht aus gefühlt einer Million Stufen, aber wir sehen die Sonne über dem recht weit entfernten Dili untergehen und das wars wert. Unten angekommen realisieren wir, dass wir das nicht durchdacht haben und wir hier nicht mehr weg kommen, so ganz ohne fahrbaren Untersatz. Und so springen wir kurzerhand mit auf einen Lastwagen voller nasser Kinder, die anscheinend im Meer baden waren. Für alle Beteiligten ist das Spaß pur, obwohl - oder gerade weil - in jeder Kurve und bei jedem Schlagloch fast alle vom Lastwagen fallen. Wir können uns kaum irgendwo festhalten, aber alle halten sich hier aneinander fest und so werden auch wir festgehalten. Ein großes Knäul aus Kindern, Jugendlichen und uns wackelt so auf dem Lastwagen hin und her. Die Kleinen kreischen und lachen laut und ausgelassen wie ich das in Deutschland noch selten gesehen habe. Auch kümmern sich die Teenies hier ganz selbstverständlich, um die Kleineren. Keine Spur zu sehen von den Unruhen, von jahrelangem Krieg und Unterdrückung.  Viele sind natürlich erst in Zeiten der Unabhängigkeit geboren worden. Aber es ist doch schön zu sehen, dass es der neuen Generation so gut geht. Der kleine acht Jahre alte Frankie ist uns besonders ans Herz gewachsen, mit seiner coolen Cappie und weil er sich traut sich mit uns zu unterhalten, allen Verständigungsschwierigkeiten zum trotz. Am Ende wird er von den Älteren ein bisschen aufgezogen, anscheinend weil er angeblich in mich "verliebt" ist. An einer Straßenkreuzung nahe der  Stadtmitte steigen wir ab und dürfen zum Abschied unseren neugewonnenen Freunden die Hand schütteln oder einklatschen bevor wir den Kindern Auf-Wiedersehen winken. Das war das fröhlichste Erlebnis seit langem!
Auf dem Lastwagen mit Frankie (rechts unten)

Unterkunft: Dili Backpackers


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